Katrin Bärtschi ist Briefträgerin in Bern und Gewerkschafterin.
Der See lag grau in seinem Becken, ob der Himmel ihn spiegelte oder umgekehrt, war nicht zu sagen. Braun, grün, dunkelblau die übrigen Farben. Die Briefträgerin fuhr im Zug und las, wenn sie nicht hinausschaute, die «Gazette», das «Kundenmagazin» (!) der BLS. Auf Seite 28 der Bericht über einen «Räderhorcher». So abgefahren! «Manuel Burkhalter will uns zeigen, wie man Räder horcht.» Im Fachjargon heisse seine Aufgabe «technischer Begleit». Wie saftlos dieser Ausdruck im Vergleich!
Hat auch der Zustellberuf ganz und gar sinnliche Aspekte?
FASZINIEREND. Das Räderhorchen geschieht folgendermassen: «Manuel postiert sich auf den Zugachsen. Hier kann er allfällige Geräusche der Räder besonders gut hören.» Dabei suche er nach einem Klopfen, das abgeflachte Stellen anzeige. Diese verschlechterten den Fahrkomfort und verursachten Schäden an Schienen und Rad. Mit seiner Tätigkeit verhindere der Räderhorcher aufwendige und teure Reparaturen, da er Schäden frühzeitig erkenne. Warum war die Briefträgerin so fasziniert von diesem Bericht? Sie wusste es nicht genau. Weil die beschriebene Arbeit im wahrsten Sinne sinnlich ist? Menschliche Ohren spüren Schäden und Gefahren auf, kein Computer, keine App, kein technisches Gerät. Dass es so etwas noch gibt! Und dass einer Zeit damit verbringt, den Zugrädern beim Fahren zuzuhören! Als Teil seines Berufes!
Die Briefträgerin kritzelte in ihr Notizbuch, das könnte eine Geschichte werden! Wo aber ist der Postbezug? Gibt es einen? Hat auch der Zustellberuf ganz und gar sinnliche Aspekte? Fingerspitzengefühl ist gefragt beim Sortieren der Post. Augenmerk beim richtigen Einwerfen. Aber etwas, das ganz besonders und unvergleichlich ist? Vielleicht früher, als der Briefträger, die Briefträgerin noch eine ganz besondere und unvergleichliche Person war. Ob sympathisch oder nicht. Im Bild, statt als austauschbare Waren-Transporteurin hinein- und hinauseilend und Scanner-Anhängsel, sowieso.
Ja, vielleicht.